Die Eloquenz des Todes

Das Portrait ist für Tamara Starl-Latour mehr als ein Mittel zum Zweck. Mehr als Abbildung und Interpretation. Mehr als ein Kompliment oder ein Hauch von Tadel: Die Wiener Malerin hat die Kunst der Portraitmalerei über die Jahre ihres Schaffens perfektioniert. So sehr, dass sich aus ihren Portraitgemälden heute weit mehr herauslesen lässt, als eine Beschreibung des oder der Portraitierten: Tamara Starl-Latours Portraits sind Kommentare zur Gegenwart. Zu Geist und Zeit – und vielleicht auch zum Zeitgeist.    

Die Herangehensweise an Thema, Objekt und Persönlichkeit kann da auf vielfältige Art erfolgen: So vielfältig wie die Menschen, die sie malt, sagt Tamara Starl-Latour, sind auch die Techniken: Minimalistisch, matter-of-fact-basiert, mystisch oder bombastisch-opulent. Die Künstlerin fokussiert auf jenen Aspekt, der ihr in der Persönlichkeit der zu portraitierenden Person am faszinierendsten, rätselhaftesten oder spannendsten erscheint. Und oft genug handelt es sich dabei um Aspekte und Wesenszüge, die im Alltag übersehen oder marginalisiert werden und die selbst der Portraitierte deshalb längst aus seiner Wahrnehmung eliminiert hat.   

Tamara Starl-Latour erfasst in ihrer Arbeit das ganze Leben. Und betont, dass auch der Tod Teil des Lebens ist. Das Verdrängen der dunklen und furchteinflößenden Komponenten im Lebensweg jedes Menschen, meint sie, mag im gelebten Alltag verständlich und vielleicht sogar berechtigt sein – doch um einen Menschen in seiner Gesamtheit darzustellen, dürfe nicht nur der Glanz der Jugend gezeigt werden – sondern eben auch Alter, Krankheit und Tod: Kein Ying ohne Yang. 

Die Hände<br>Porträt des Vaters in fünf Malphasen<br><br>1997<br>Acryl / Leinen<br>5 Bilder à 100 x 70 cm

Also auch den Tod. Der Tod, der ebenso mit dem Individuum verbunden ist wie der vitale Glanz der Jugend, hat als natürlicher Teil eines Lebenslaufs im Bewusstsein der Öffentlichkeit kaum mehr Platz. Alter, Krankheit, Tod sind in der Gesellschaft negativ behaftet, unästhetisch. Ein Wegwerfprodukt, wer von ihnen befallen ist.
Diesem selbstgestellten Auftrag wird Tamara Starl-Latour nicht zuletzt durch die Abfolge und Reihung der Arbeitsschritte bis zum fertigen Gemälde gerecht. Und wie im Leben ist all das Dunkle, Furchterfüllte und Angstmachende am Ende – wenn das Portrait vollendet ist – nicht mehr zu sehen, aber eben doch da. Unter der Oberfläche. Im Inneren des Bildes: In seiner Aura und Seele - in seinem Charakter.
Denn zu Beginn ihrer Arbeit setzt sich die Künstlerin zunächst mit intuitiven, abstrakten Stimmungsentwürfen auseinander - und arbeitet sich erst dann, Schritt für Schritt, zum gegenständlich-Sichtbaren,  also der Oberfläche - vor.

Tote Mutter<br>Portrait in drei Malphasen<br><br>1998<br>Acryl / Leinen<br>3 Bilder à 100 x 70

Tamara Starl-Latour nennt diese Technik und diesen Zugang Untermalung.
Für sie sind diese Untermalungen zentraler Bestandteil von Arbeitsprozess und Bild. Jeder Blick, jeder Arbeitsschritt lässt eine neue Interpretation und Sichtweise auf Objekt, Bild und Persönlichkeit zu – und jede Interpretation findet ihren Weg auf die Leinwand.

Und auch wenn für die Künstlerin der Weg zum fertigen Bild eine gerade, stringente Linie darstellt, ist das für den Betrachter längst nicht so offensichtlich: Denn Tamara Starl-Latours Bilder bilden das Leben ab, wie es ist. Als Kreislauf: Jeder Anfang markiert ein Ende. Und jedes Ende einen Anfang.  

Am Totenbett<br>Portrait des Vaters<br><br>1999<br>Acryl / Leinen<br>100 x 130 cm